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Schon im dritten Jahr erzähle ich hier zum Jahresanfang von meinen Leselieblingen aus dem vorhergehenden Jahr. Und bin dann immer gleich motiviert zu schauen, was es von diesen und anderen Autorinnen und Autoren Neues gibt. Nach dem Lesen ist eben auch vor dem Lesen. In diesem Sinne – viel Vergnügen mit der „Aus-Lese“.

1. Der Mythenroman: "Circe", Madeline Miller

In die römischen und griechischen Mythen tiefer einzusteigen, damit habe ich mich lange schwergetan. Nun hat mir "Circe" der amerikanischen Historikerin Madeline Miller endlich einen Zugang verschafft. Das liegt, denke ich, auch an der Ich-Perspektive, in der der Roman erzählt ist. Denn so kam Circe und ihre Familiengeschichte, ihr Leben von ihrer Kindheit unter Nymphen und Göttern über ihre Verbannung als Zauberin und ihre Zeit mit Odysseus besonders nah an mich heran. Beeindruckt hat mich auch, wie die Autorin die Verbindung schafft zwischen göttlicher und nicht-göttlicher Welt. Wie es so ganz selbstverständlich wirkt, wenn zur Hochzeit von Circes Schwester Pasiphäe mit König Minos auf Kreta die ganzen großen Götter und Titanen auftauchen – als könnten sie auch zu jeder anderen Hochzeit kommen.   

2. Lang & großartig: "Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Entdeckung des Ich", Andrea Wulf

Fast zwei Monate habe ich an diesem Buch gehört. Und es hat sich gelohnt. Caroline Schlegel, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Johann Gottlieb Fichte, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Friedrich Wilhelm Schelling, die Humboldts, Novalis, Ludwig Tieck – so viele große Geister sind mir jetzt vertrauter als vorher. Und so persönlich schreibt die Autorin über die Geburtsstunden der Romantik in den Jahren um 1800, die Sehnsucht nach persönlicher, politischer und künstlerischer Freiheit im Spiegel der französischen Revolution, dass ich ganz mit dort war. Und Jena? Jena ist der Zauberort dieser Zeit. Alle brechen sie dorthin auf. Dieses Buch werde ich nicht vergessen.

3. Eine Entdeckung: "Graue Bienen", Andrej Kurkow

Bei diesem Buch habe ich gezögert. Nicht wegen des Autors, den ich noch nicht kannte. Ich war mir nicht sicher, ob es im April 2022 passt, einen Roman aus der Ukraine zu lesen. Ob Nachrichten vom Krieg nicht die passendere Wahl wären. Ich habe es trotzdem nicht bereut. Die Hauptfigur des Romans, Segejitsch, ist Frührentner und Imker und lebt in einem Dorf in der Ostukraine, 2016 Kampfgebiet zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten. Sergejitsch will seine Bienen nicht verlassen, doch außer ihm ist nur noch Paschko im Ort geblieben, sein Kindheitsfeind.

Wie Sergejitsch seine Bienen rettet und sich die Männer doch wieder näherkommen, das erzählt dieser Roman zugleich lakonisch wie zugewandt inmitten all der Kampfeshandlungen. Romane sind keine Nachrichten. Aber sie halten länger und manchmal machen sie Zusammenhänge klarer.

4. Überraschendes Ende: "Liebesheirat", Monica Ali

Fan der britischen Schriftstellerin Monica Ali war ich schon seit ihrem Roman „Brick Lane“ aus dem Londoner East End aus dem Jahr 2003. Und so habe ich mich auch wieder auf ihr neuestes Buch „Liebesheirat“ gefreut. Ich mag es, wie nah sie dran ist an ihren Figuren, wie sehr sie mitzufiebern scheint mit deren Wünschen und Sehnsüchten, mit dem, was gut und was schief läuft in ihren Leben. Für Yasmin und Joe sieht erst einmal alles ganz wunderbar aus. Schließlich haben sie sich beide gefunden und ihre Hochzeit steht bald an. Dass es dann anders kommt und der Titel „Liebesheirat“ sich trotzdem einlöst, macht die besondere Spannung dieses Romans aus. Ich habe ihn sehr gern gelesen.  

5. Dauerhafter Begleiter: "Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen", Robin Wall Kimmerer

Von diesem Buch habe ich viel geschwärmt. Weil Robin Wall Kimmerer das zusammenbringt, was mir zuvor getrennt vorgekommen ist. Weil sie ihr Wissen als Botanikerin und Professorin mit persönlichen Erlebnissen, Mythen und Geschichten der Citizen Potawatomi Nation verbindet. Immer wieder bringen mich ihre Erzählungen auch auf meine „eigenen Landschaften“ zurück, auf die Frage, in welcher Um-Welt ich aufgewachsen bin und lebe. „Wir stammen alle von ursprünglich indigenen Völkern ab.“ Ihr Buch ist voll von Sätzen, die mir tagelang im Kopf bleiben (und dort weiterwirken). Auch nach dem zweiten Lesen ist es gar nicht erst vom Nachttisch verschwunden – sondern wartet dort schon auf die dritte Runde.

6. Persönliche Berührung: "Ein mögliches Leben", Hannes Köhler

Eine letzte große Reise soll es werden. Martin soll seinen Großvater Franz in die USA begleiten, auf den Spuren der Zeit, die der Großvater in einem Lager für deutsche Kriegsgefangene in Texas verbracht hat. Da dachte ich, ich würde schon viel über die Nazizeit wissen. Aber alles eben doch nicht. Denn wie die Anhänger des Nationalsozialismus auch in US-Gefangenenlagern weiter ihre Kämpfe austrugen, war mir neu.

Allmählich kommt der Enkel dem Großvater näher, den er bisher durch die Erzählungen seiner Mutter nur als verbitterten Mann kennengelernt hat. Aber das Buch erzählt auch die Geschichte von Paul, einem Deutschamerikaner, der sich Ende der 30er Jahre freiwillig zur deutschen Armee gemeldet hatte und sich im Lager mit Franz anfreundet. Und so rollt sich das, was der Großvater nie jemandem erzählt hat, nach 70 Jahren langsam auf.

Ein Onkel von mir war in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, aber er sprach nie darüber. Deshalb hat mich der Roman vielleicht noch einmal besonders berührt mit der Frage: Welche Geheimnisse können sich auch hinter den Orten verbergen, von denen wir glauben, es hätte dort keine gegeben?

7. Jedes Buch ein Treffer: "Zur See", Dörte Hansen

Ein neues Buch von Dörte Hansen. Da wusste ich schon, dass es mir gefallen würde, weil ich schließlich auch "Altes Land" und "Mittagsstunde" so mochte. Und ich lag auch diesmal richtig. Wieder erzählt Dörte Jansen aus dem Norden. Von Familien, die auf der Insel in der Nordsee seit Generationen miteinander verknüpft sind und in deren Leben die Inselgäste nur zeitlich begrenzt einfallen. Und in wogenden Sätzen und wunderbaren Bildern, solchen wie diesen: „Auf einer Inselfähre, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es einen, der die Leinen los- und festmacht, und immer ist er zu dünn angezogen für die Salz- und Eisenkälte eines Nordseehafens.“ Eine Frage bleibt: Was ist eine Eisenkälte? Assoziationen dazu habe ich schon.

Was, wenn der Weihnachtsengel plötzlich weg ist? Oder ein Tag im Adventskalender fehlt? Und woher kommt der zweite Esel an der Krippe?

Geschichten von kleinen und großen Wundern in der Weihnachtszeit, die ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern und ein Lächeln ins Herz. Lust auf eine Leseprobe? Einfach reinlesen und gern auch bestellen: https://shop.tredition.com/booktitle/Der_Engel_ist_weg. Oder im Lieblingsbuchhandel Ihrer Wahl. Oder - auf Wunsch mit persönlicher Widmung - per E-Mail direkt bei mir: sv@erzaehlschreiben.de.

Ein verblüffender historischer Roman, ein kämpferischer Wanderbegleiter, ein mutiges Debüt, das Gespenster vertreibt, das sind drei der sieben Bücher, die es auf meine persönliche „Bestenliste“ im Jahr 2021 geschafft haben. Was allen gemein ist: Nach dem ersten Lesen waren sie gleich noch einmal „dran“. Und das ist eines der Zeichen dafür, dass ein Buch mich wirklich gepackt hat.

1. Das Erste: "Tyll", Daniel Kehlmann

Eine Geschichte des Tyll Ulenspiegel – oder wie er uns vertrauter ist: Till Eulenspiegel. Oder doch nicht? Das erste Buch in meinem Lesejahr 2021 – und gleich auf der Liebstenliste gelandet. Schon nach den ersten Seiten war ich verblüfft: Was Daniel Kehlmann alles über Till Eulenspiegel herausgefunden hat! Über das Leben eines Gauklers im Schatten des 30-jährigen Krieges, der von Ort zu Ort zieht. Ein Hofnarr, der die Herrschenden verspottet, aber auch einer, der immer wieder neue Wege findet, um zu überleben.

So gebannt war ich von all diesen Wirrungen und Wegen, dass ich erst im Nachhinein nachlas: Daniel Kehlmann hat nicht nur herausgefunden, sondern auch erfunden. Oder wie es in den Rezensionen zu lesen war: Dies wäre eben nicht wirklich ein Roman über Till Eulenspiegel. Denn der hat nicht im 17. Jahrhundert gelebt, sondern im 14. Jahrhundert. Dass ich alles für bare Münze genommen hatte, weil es so gut geschrieben war, irritierte mich. Aber jetzt denke ich immer noch: Ein großartiger historischer Roman, auch wenn einiges anders verknüpft ist, als es in Wirklichkeit war.

2. Der Wanderbegleiter: "Die Wurzeln des Lebens", Richard Powers

Meine Wanderlektüre im Mai, durch den hohen Fläming, nicht weit von Berlin. Zwei Wochen lang kam das Buch im Rucksack mit und sieht jetzt auch so aus: viel genutzt. Der junge Künstler Nicholas, dessen Vorfahren eine Kastanie aus dem amerikanischen Osten mitgebracht haben, die als eine der wenigen das große Kastaniensterben überlebt.  Die Ingenieurin Mimi, deren Vater aus China eine Maulbeere mitbrachte. Die Botanikerin, die zur Kommunikation der Bäume forscht. Alle kommen sie im Laufe des Romans zusammen, um die letzten Mammutbäume zu retten. Richard Powers verwebt die Geschichte von Menschen und Bäumen. Ein episches (und kämpferisches!) Werk über die Welt der Bäume und der Menschen – und ein idealer Wanderbegleiter.

3. Aufrüttelnd: "Sprich mit mir", T.C. Boyle

Ich bin T.C. Boyle-Fan. Er hat mir ganz neue Welten erschlossen und erzählt für mich immer wieder großartig, wie wir Menschen ticken, wenn wir auf die Probe gestellt werden. Hier setzt die junge Psychologiestudentin Aimee all ihren Ehrgeiz darein, in dem Projekt von Professor Schemerhorn mitzuarbeiten, in dem es um die Kommunikation von Schimpansen geht. Selbst wenn sie anfangs nur die Ställe putzt. Doch dann kommt ihr der Schimpanse Sam immer näher. Was, wenn Menschenaffen reden könnten? Dafür wird ihnen in dem Versuch die Gebärdensprache beigebracht. Und damit sind sie so erfolgreich, dass sie es bis ins Fernsehen schaffen. Aber dann gehen dem Projekt die Gelder aus. Und was ist mit Menschenaffen zu tun, die zwar reden können, es aber nicht mehr sollen? Für Aimee geht es jetzt nicht mehr um das Projekt oder ihre Karriere, sondern nur noch um Sam.

4. Gespenster vertreiben: "Die Gespenster von Demmin", Verena Keßler

Da traut sich eine was. Über Demmin zu schreiben, die Stadt im Nordosten Deutschlands, deren Name vor allem mit dem Massensuizid 1945 beim Einmarsch der Russen verknüpft ist. Und dann auch noch in ihrem Debutroman. Ich habe nicht geglaubt, dass sich über Demmin ein so tiefer und doch auch "leichter" Roman zugleich schreiben lässt, der das Damals und das Heute verbindet. Die Hauptfigur Larry ist 13. Sie will weg aus Demmin und Kriegsreporterin werden. Dafür trainiert sie unter anderem mit stundenlangem Über-Kopf-Hängen im Garten. Im Haus nebenan: die alte Nachbarin, die sich beim Aussortieren ihres Hausstands an das Kriegsende in Demmin und ihre eigene Kindheit erinnert. Was die beiden verbindet und ob Larry wegkommt? Einfach selber lesen 😊.

5. Aus Liebe zum Lesen: "Robinsons Tochter", Jane Gardam

Wir haben es 1904 und die sechsjährige Polly zieht zu ihren Tanten ins große gelbe Haus in der Marsch an der Ostküste Englands. Auf die englische Autorin Jane Gardam habe ich quasi ein „Abo“, seit ich erst vor wenigen Jahren auf ihre Bücher gestoßen bin. Ihre Figuren bleiben mir unvergesslich und so wird es wohl auch mit Polly werden, die mir als Ich-Erzählerin schnell als Herz gewachsen ist.

Unterhaltung gibt es nicht viel im gelben Haus für Polly, aber jede Menge Bücher. Ihre Tanten werden sich ihr erst über viele Jahre entschlüsseln, doch schnell wird ihr aus der großen Bibliothek jemand anders ein tröstlicher Begleiter: Robinson Crusoe. Das Buch begleitet sie überall hin. So „festgesetzt und eingesperrt“ sie sich auf ihrer "Insel" über Jahre und Jahrzehnte fühlt, hat sie in Crusoe einen Gleichgesinnten gefunden und lässt sich davon leiten, wie er die Einsamkeit in seinem Leben meistert.

Ein Buch über die Liebe zum Lesen und das, was ein Buch für einen Menschen zu sein vermag. Und PS: Es kommt auch noch ein „Schiff“ für Polly – so wie für Crusoe.

6. Eindringlich: "Die Beichte einer Nacht", Marianne Philips

Dieses Buch habe ich gehört – und gerade dadurch hat es sich mir vermutlich so eindrücklich eingeprägt. Denn es ist ein Gespräch, das dann aber doch keines ist, weil nur eine redet: Heleen. In einer Nervenklinik vertraut sie einer Nachtschwester ihre Lebensgeschichte an. In einer langen Nacht spricht sie zum ersten Mal über ihre Kindheit, die kinderreiche Familie, in der sie als Älteste für die Jüngeren sorgen musste. Über Ihre große Liebe zu Hannes und darüber wie die jüngste Schwester Lientje nach dem Tod der Eltern zu ihnen zieht und wie da etwas zwischen Hannes und Lientje entsteht, mit dem sie nicht umzugehen weiß. Beim Lesen (oder hören) zieht sich einem das Herz zu, auf was all das hinauslaufen mag, wenn das Leben jemanden zu viel aufbürdet. Ein kunstvoll und eindringlich geschriebenes Buch der niederländischen Autorin Marianne Philips, die ich zuvor noch nicht kannte.

7. Ein kreatives Leben führen: "BIG MAGIC", Elizabeth Gilbert

Eat, pray, love – das Buch und der Film – das war es, was ich bisher mit der Autorin Elizabeth Gilbert verbunden hatte. Und beides war mir ein bisschen zu sehr "gehypt". Deshalb habe ich nicht damit gerechnet, dass mich ihr Sachbuch “Big Magic“ so sehr ansprechen würde.

Big Magic – das heißt für Elizabeth Gilbert, dass „unser Planet auch von Ideen bewohnt wird.“ Sie umspielen und umwerben uns. Und: „Wenn eine Idee glaubt, jemanden gefunden zu haben – dich zum Beispiel –, der sie möglicherweise zum Leben erwecken kann, wird sie dir einen Besuch abstatten.“ Das ist das große Bild hinter diesem Buch – und ich mag es sehr.

Dabei erzählt Elizabeth Gilbert über ihr Leben und ihr Schreiben, über Absagebriefe und Bestseller, über (zu teure) Creative-writing-Studiengänge, über Schreibkolleginnen, zu denen ihre Ideen gegangen sind, nachdem sie selbst diese doch nicht wollte. Und sie schreibt über Kreativität und Angst und warum die beiden durchaus zusammengehören (dürfen). Jede und jeder von uns hat das Recht, ein kreatives Leben zu führen. Und dieses Buch ist eine große Ermutigung dafür.

Übrigens: Das Cover der englischsprachigen Ausgabe ist bunt wie ein Feuerwerk – was für mich gut zu „Big Magic“ passt. Bei der deutschsprachigen Ausgabe lächelt einen Elizabeth Gilbert selbst großformatig und hoffnungsvoll an und der Untertitel lautet: „Nimm dein Leben in die Hand und es wird dir gelingen.“ Das kann ein bisschen abschreckend wirken. Aber es bleibt ein aus meiner Sicht großartiges Buch.

Ich lese viel. Wenn ich auf ein Jahr zurückblicke, ragen nicht nur Ereignisse und Erlebnisse heraus, sondern auch Bücher, die mich in einer besonderen Art berührt haben und Autoren und Autorinnen, die ich neu für mich entdeckt habe. Diese 7 waren es 2020:

1. "American Gods" von Neil Gaiman

Ein Wälzer. Schon als ich das Buch zuerst gehört habe (anschließend habe ich es mir auch zum Lesen gekauft), war das zu merken: 25 Stunden Hörzeit! Viele kennen Neil Gaiman schon als Fantasyautor, ich habe ihn letztes Jahr erst entdeckt und das über den Titel 2 dieser Liste. Aber dann war ich neugierig auf sein opulentestes Werk: die Geschichte der nach Amerika eingewanderten alten Götter und ihres Kampfes um Beachtung in einer Welt, in der sie kaum noch jemand kennt. Ich war beeindruckt von der Geschichte selbst, die ich sehr spannend erzählt finde, aber auch von dem unglaublich breiten Wissen Neil Gaimans über die Welt der Göttinen und Götter, ihrer Motive, Begierden und Verstrickungen.

2. "Der Ozean am Ende der Straße" von Neil Gaiman

Eines der neueren Bücher von Neil Gaiman und auch das erste, auf das ich von ihm gestoßen bin. In einer Ankündigung, die ich darüber gelesen hatte, hieß es, das wäre sein autobiografischstes Buch. Was ich beim Lesen erstaunlich fand, denn klang das nicht doch eher wie ein Märchen oder Fantasy? Und genau das begeistert mich an Neil Gaiman: Dass er über diesen winzigen Schritt zwischen dem Möglichen und dem (Un-)möglichen schreiben kann, als gäbe es ihn gar nicht und als wären wir in den Erinnerungen an unsere Kindheit in einer wie der anderen Welt zu Hause.

3. "Da sind wir" von Graham Swift

Kennen Sie dieses Glücksgefühl? Da entdecke ich eine Autorin oder einen Autor neu und mutmaße, dass damit noch eine ganze Reihe schon geschriebener Bücher mich beglücken wird.

So ging es mir mit Neil Gaiman und so ging es mir 2020 auch mit Graham Swift. Mein "erstes" Buch von ihm war "Da sind wir", die Geschichte eines Jungen, der in den 1940er Jahren in England Zauberer wird. Die Geschichte ist in Rückblenden erzählt und baut eine ungeheure Spannung um einen einzigen Moment herum auf, in dem der Zauberer sich selbst wegzaubert. Diese Konzentration auf einen Moment, dieses kunstvolle Hin- und Herwogen und im Sinne der Handlung immer ein wenig Weiterschwappen habe ich auch in "meinem" nächsten Roman dieses Autors wieder gefunden – und sie hat mich wieder begeistert:

4. "Ein Festtag" von Graham Swift

Auch wieder ein ganzes Leben erzählt in einem Moment. Auch wieder ein Roman wie eine Welle, die vor und zurückschwappt und uns immer ein bisschen weiterbringt. Dies ist die Geschichte von Jane, einem Dienstmädchen, das sich an einem Sommertag im Jahr 1924 mit Paul, ihrem Geliebten und Sohn einer wohlhabenden Familie, trifft. Nach dieser letzten Begegnung soll er heiraten – eine andere. Aber ob es dazu kommt, darum geht es im ganzen Roman – und ich habe jeden Lesemoment genossen.

5. "Die verschwindende Hälfte" von Brit Bennett

Dieses Buch habe ich zunächst über das Kulturradio des RBB kennengelernt und mir ein paar Folgen vorlesen lassen, bis ich dann so neugierig gemacht war, dass ich das ganze Buch lesen wollte. Ein sehr aktueller Roman darüber, wer eigentlich entscheidet, was und wer wir sind.

"Die verschwindende Hälfte" spielt in Maillard, einem kleinen Ort in Louisana, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner seit Generationen alles daran geben, immer hellhäutiger zu werden. Bis eine von ihnen, eine von zwei Zwillingsschwestern, beschließt, ganz auf die andere Seite zu wechseln und das Leben einer Weißen zu führen.

6. "Alles richtig gemacht" von Gregor Sander

Manchmal passiert das Eintauchen in die anderen Welten weit weg – örtlich und zeitlich. Und manchmal kann das auch relativ nah funktionieren – und ist trotzdem der Sprung in ganz andere Erfahrungen hinein. Gregor Sanders Roman "Alles richtig gemacht" spielt in der Nachwendezeit im Wedding, der mir vertraut ist und in der Vorwendezeit in Rostock und Heiligendamm, das ich damals nicht erlebt habe. Und gerade dieses Nahe und zugleich Ferne hat mich bei dem Roman angesprochen. Es ist die Geschichte von Jugendlichen, die in der Wendezeit in die Welt aufbrechen und die Geschichte eines Familienvaters, der sich dreißig Jahre später fragt, ob er alles richtig gemacht hat.

7. "Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste" von Thomas Hettche

Wir kommen zu den Märchen zurück – und bleiben beim Biografischen. Thomas Hettche kannte ich schon als Autor des Romans "Pfaueninsel", der im 19. Jahrhundert auf der kleinen Insel in der Havel spielt. Und weil mich schon bei diesem Roman sehr angesprochen hat, wie sich Thomas Hettche für einen ganz besonderen Ort und seine Geschichte begeistern konnte, habe ich mich auch auf den Roman der Augsburger Puppenkiste gefreut.

Ein wenig hat mich der auch typografische Wechsel zwischen der Erzählung im Jetzt und der Erzählung in den 1930iger bis 1950iger Jahren an die beiden Perspektiven in der Unendlichen Geschichte von Michael Ende erinnert. Und das ist bestimmt kein Zufall. Schließlich wird auch von der Begegnung zwischen "Hatü", Mitgründerin der Puppenkiste, und Michael Ende erzählt als dem Schöpfer von Jim Knopf, Lukas, Prinzessin Li und vielen anderen Figuren, mit denen die Augsburger Puppenkiste bekannt geworden ist. Ein sehr berührendes Buch, das ich gleich zwei Mal hintereinander gelesen habe. Und das ist bei mir ein gutes Zeichen dafür, dass es in die engere Auswahl für meine Bestenliste kommt.

Es gibt viele Gründe, Bücher zu Lieblingsbüchern zu erklären. Und Sie haben vielleicht noch ganz andere als ich. Das Lesejahr 2021 jedenfalls hat längst angefangen und ich bin sehr gespannt, was und wer es in diesem Jahr in meine Auslese "schaffen" wird.

Meine 7 im letzten Jahr noch einmal auf einen Blick:

  1. American Gods, Neil Gaiman
  2. Der Ozean am Ende der Straße, Neil Gaiman
  3. Da sind wir, Graham Swift
  4. Ein Festtag, Graham Swift
  5. Die verschwindende Hälfte, Brit Bennett
  6. Alles richtig gemacht, Gregor Sander
  7. Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste, Thomas Hettche

Gelesen wird überall. Ob in der Badewanne, im Bett, auf der Hängematte oder am Strand. Und wie ist das beim Schreiben? Lässt es sich auch an mehr Orten schreiben, als wir es bisher tun? Cafés oder Museen (oder auf meinem Bild ein Brunnen in Weimar im Sommer 2001) gehen gerade nicht, aber vielleicht gibt es auch sonst noch gute Schreiborte, die du bisher noch nicht ausprobiert hast. Lass uns einfach etwas forschen:

...weiterlesen "Wo die Muse küsst. Lieblingsschreiborte finden."

Diese Frage kennen Sie bestimmt: Welches Buch würden Sie mitnehmen, wenn Sie auf eine einsame Insel gingen? Ich stelle die Frage anders: Welche 10 Bücher Ihres Lebens würden Sie auf ein Regalbrett stellen, wenn nicht mehr Platz in Ihrer Wohnung wäre?

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...weiterlesen "Wer wäre ich ohne diese Bücher?"

Schreiben Sie noch? Briefe oder ab und zu eine Postkarte? Und das nicht (nur) aus dem Urlaub?

Die Kunst des Briefeschreibens war über lange Zeit eine, die erlernt werden durfte, konnte, sollte. Briefe waren wochen-, monatelang unterwegs. Und mit Briefen ließ es sich auch dann in Verbindung bleiben, wenn man sich vielleicht gar nie wieder im Leben sah. ...weiterlesen "Schreib mal wieder."

Der Künstlertreff - eine von zwei Methoden, die mir besonders wichtig sind aus dem "Weg des Künstlers" von Julia Cameron. Die Morgenseiten nutze ich, um das, was mich beschäftigt, möglichst ungefiltert zu Papier zu bringen. Und mit dem Künstlertreff lässt sich die eigene kreative Quelle immer wieder auffüllen. ...weiterlesen "Künstlertreff daheim"

Mein Schlüsselerlebnis in Sachen Hörbuch: Vor etlichen Jahren hatte ich mich zunächst an der gedruckten Fassung des Romans „Museum der Unschuld“ von Orhan Pamuk versucht.

Die Geschichte einer großen, aber unerfüllten, Liebe, die in Istanbul spielt und in den 1970iger Jahren beginnt. Eine lange und bis in Details geschilderte Szene zwischen den beiden Liebenden folgte auf die andere. Die Langsamkeit des Erzählstils ermüdete mich so sehr, dass ich die Lektüre schließlich abbrach. ...weiterlesen "Hörst du schon? Oder liest du noch?"