Schon im dritten Jahr erzähle ich hier zum Jahresanfang von meinen Leselieblingen aus dem vorhergehenden Jahr. Und bin dann immer gleich motiviert zu schauen, was es von diesen und anderen Autorinnen und Autoren Neues gibt. Nach dem Lesen ist eben auch vor dem Lesen. In diesem Sinne – viel Vergnügen mit der „Aus-Lese“.
In die römischen und griechischen Mythen tiefer einzusteigen, damit habe ich mich lange schwergetan. Nun hat mir “Circe” der amerikanischen Historikerin Madeline Miller endlich einen Zugang verschafft. Das liegt, denke ich, auch an der Ich-Perspektive, in der der Roman erzählt ist. Denn so kam Circe und ihre Familiengeschichte, ihr Leben von ihrer Kindheit unter Nymphen und Göttern über ihre Verbannung als Zauberin und ihre Zeit mit Odysseus besonders nah an mich heran. Beeindruckt hat mich auch, wie die Autorin die Verbindung schafft zwischen göttlicher und nicht-göttlicher Welt. Wie es so ganz selbstverständlich wirkt, wenn zur Hochzeit von Circes Schwester Pasiphäe mit König Minos auf Kreta die ganzen großen Götter und Titanen auftauchen – als könnten sie auch zu jeder anderen Hochzeit kommen.
Fast zwei Monate habe ich an diesem Buch gehört. Und es hat sich gelohnt. Caroline Schlegel, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Johann Gottlieb Fichte, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Friedrich Wilhelm Schelling, die Humboldts, Novalis, Ludwig Tieck – so viele große Geister sind mir jetzt vertrauter als vorher. Und so persönlich schreibt die Autorin über die Geburtsstunden der Romantik in den Jahren um 1800, die Sehnsucht nach persönlicher, politischer und künstlerischer Freiheit im Spiegel der französischen Revolution, dass ich ganz mit dort war. Und Jena? Jena ist der Zauberort dieser Zeit. Alle brechen sie dorthin auf. Dieses Buch werde ich nicht vergessen.
Bei diesem Buch habe ich gezögert. Nicht wegen des Autors, den ich noch nicht kannte. Ich war mir nicht sicher, ob es im April 2022 passt, einen Roman aus der Ukraine zu lesen. Ob Nachrichten vom Krieg nicht die passendere Wahl wären. Ich habe es trotzdem nicht bereut. Die Hauptfigur des Romans, Segejitsch, ist Frührentner und Imker und lebt in einem Dorf in der Ostukraine, 2016 Kampfgebiet zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten. Sergejitsch will seine Bienen nicht verlassen, doch außer ihm ist nur noch Paschko im Ort geblieben, sein Kindheitsfeind.
Wie Sergejitsch seine Bienen rettet und sich die Männer doch wieder näherkommen, das erzählt dieser Roman zugleich lakonisch wie zugewandt inmitten all der Kampfeshandlungen. Romane sind keine Nachrichten. Aber sie halten länger und manchmal machen sie Zusammenhänge klarer.
Fan der britischen Schriftstellerin Monica Ali war ich schon seit ihrem Roman „Brick Lane“ aus dem Londoner East End aus dem Jahr 2003. Und so habe ich mich auch wieder auf ihr neuestes Buch „Liebesheirat“ gefreut. Ich mag es, wie nah sie dran ist an ihren Figuren, wie sehr sie mitzufiebern scheint mit deren Wünschen und Sehnsüchten, mit dem, was gut und was schief läuft in ihren Leben. Für Yasmin und Joe sieht erst einmal alles ganz wunderbar aus. Schließlich haben sie sich beide gefunden und ihre Hochzeit steht bald an. Dass es dann anders kommt und der Titel „Liebesheirat“ sich trotzdem einlöst, macht die besondere Spannung dieses Romans aus. Ich habe ihn sehr gern gelesen.
Von diesem Buch habe ich viel geschwärmt. Weil Robin Wall Kimmerer das zusammenbringt, was mir zuvor getrennt vorgekommen ist. Weil sie ihr Wissen als Botanikerin und Professorin mit persönlichen Erlebnissen, Mythen und Geschichten der Citizen Potawatomi Nation verbindet. Immer wieder bringen mich ihre Erzählungen auch auf meine „eigenen Landschaften“ zurück, auf die Frage, in welcher Um-Welt ich aufgewachsen bin und lebe. „Wir stammen alle von ursprünglich indigenen Völkern ab.“ Ihr Buch ist voll von Sätzen, die mir tagelang im Kopf bleiben (und dort weiterwirken). Auch nach dem zweiten Lesen ist es gar nicht erst vom Nachttisch verschwunden – sondern wartet dort schon auf die dritte Runde.
Eine letzte große Reise soll es werden. Martin soll seinen Großvater Franz in die USA begleiten, auf den Spuren der Zeit, die der Großvater in einem Lager für deutsche Kriegsgefangene in Texas verbracht hat. Da dachte ich, ich würde schon viel über die Nazizeit wissen. Aber alles eben doch nicht. Denn wie die Anhänger des Nationalsozialismus auch in US-Gefangenenlagern weiter ihre Kämpfe austrugen, war mir neu.
Allmählich kommt der Enkel dem Großvater näher, den er bisher durch die Erzählungen seiner Mutter nur als verbitterten Mann kennengelernt hat. Aber das Buch erzählt auch die Geschichte von Paul, einem Deutschamerikaner, der sich Ende der 30er Jahre freiwillig zur deutschen Armee gemeldet hatte und sich im Lager mit Franz anfreundet. Und so rollt sich das, was der Großvater nie jemandem erzählt hat, nach 70 Jahren langsam auf.
Ein Onkel von mir war in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, aber er sprach nie darüber. Deshalb hat mich der Roman vielleicht noch einmal besonders berührt mit der Frage: Welche Geheimnisse können sich auch hinter den Orten verbergen, von denen wir glauben, es hätte dort keine gegeben?
Ein neues Buch von Dörte Hansen. Da wusste ich schon, dass es mir gefallen würde, weil ich schließlich auch “Altes Land” und “Mittagsstunde” so mochte. Und ich lag auch diesmal richtig. Wieder erzählt Dörte Hansen aus dem Norden. Von Familien, die auf der Insel in der Nordsee seit Generationen miteinander verknüpft sind und in deren Leben die Inselgäste nur zeitlich begrenzt einfallen. Und in wogenden Sätzen und wunderbaren Bildern, solchen wie diesen: „Auf einer Inselfähre, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es einen, der die Leinen los- und festmacht, und immer ist er zu dünn angezogen für die Salz- und Eisenkälte eines Nordseehafens.“ Eine Frage bleibt: Was ist eine Eisenkälte? Assoziationen dazu habe ich schon.