Und wieder hatte ich bei meinen Leserückblick das Gefühl: Das ist doch schon viel länger her, dass ich dieses Buch gelesen habe. Irgendwie komisch: Einerseits vergeht ein Jahr so flugs, andererseits ist der letzte Januar lange her.
Die Mischung in meiner persönlichen Bestenliste ist wieder breit – mit Iris Wolff, T.C. Boyle, Charlotte Roth, Ewald Frie, Joachim B. Schmidt, Maxim Leo und Charlotte McConaghy. Vielleicht erkennt ihr eure Lese-Lieblinge wieder, vielleicht entdeckt ihr Neues. In jedem Fall: Viel Vergnügen dabei.
Frühjahr 2023, in der S-Bahn von Potsdam nach Berlin. Ein paar Frauen um mich herum unterhalten sich über ihre Lieblingsbücher. Eine schwärmt von „Die Unschärfe der Welt“ von Iris Wolff. Also in Berlin gleich in den nächsten Buchladen und was sehe ich als erstes auf dem großen Büchertisch … Und ja, mir hat diese Familiengeschichte aus dem rumänischen Banat genauso gut gefallen. Jedes Wort so wohlgesetzt, jedes Bild ganz neu und eigen, Sprache und Handlung kommen hier ganz besonders gut zusammen. Ein junger Pfarrer aus der deutschen Minderheit in Rumänien wird in den 1970iger Jahren in ein abgelegenes Haus im Banat versetzt, mit ihm kommt seine hochschwangere Frau. Wie die beiden ihre Familie gründen und wie diese Familie durch die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche auseinandergebracht wird und wieder zusammenkommt, das ist eine bewegende Lese-Reise in eine ganz eigene Welt.
Ein gutes Lesejahr, denn es gab auch einen neuen T.C. Boyle 😉 In „Blue Sky“ geht es ums Klima in der Welt, Überschwemmungen in Florida, Trockenheit in Kalifornien, um Schlangen als Haustiere, Bienensterben, Grillen essen. Darunter macht es T.C. Boyle nicht. Sein Stil, irgendwo zwischen zynisch und humorvoll, ist Geschmackssache. Ich mag ihn sehr. Denn wenn seine Heldinnen und Helden stetig zwischen Welt-retten-wollen, Selbstdarstellung und Selbstgerechtigkeit schwanken, so fühlen sie sich sehr echt an – als wären sie gleich nebenan.
Auch zu diesem Buch hat mich ein Umweg geführt: „Die ganze Welt ist eine große Geschichte, und wir spielen darin mit.“ Das sagt Gigi Fremdenführer zu Beppo Straßenkehrer in Michael Endes Märchenroman Momo. So bin ich durch das Zitat auf Charlotte Roths Romanbiografie über Michael Ende gestoßen. Und wie wunderbar ist das, einem Autor näher zu kommen, dessen Bücher schon so lange in meinem Bücherregal stehen: Eben “Momo” und “Die unendliche Geschichte”, “Jim Knopf” und “Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch” und “Der Spiegel im Spiegel”. Und so weiß ich jetzt vieles mehr, auch über seine Kindheit in Garmisch und München, die Begegnung, die Liebe und die Entfremdung seiner Eltern, die Bilder seines Vaters, die in Michael Ende Figuren entstehen lassen, denen wir später in seinen Romanen begegnet sind.
Erst seit einem Jahr ist der Schweizer Autor mir ein Begriff. Und schon hab ich alles gelesen, was ich von ihm in die Hände bekommen konnte. Ich mag seine Kalman-Geschichten, die auf Island spielen – und ich mochte „Tell“ sehr. Denn Joachim B. Schmidt findet für jedes Buch eine eigene Form und die ist bei seiner Nacherzählung der Tell-Saga ganz besonders. Alle kommen sie zur Sprache, die Hedwig, der Walter, der Willi, die Grosi Marie, der Landvogt Gessler und erzählen aus ihrem Blick die Geschichte vom Tell. Ein großartiges und neuartiges “Sagen-Buch” über den Schweizer Bergbauern, der mit dem Landvogt aneinandergerät und mit dem Schuss auf einen Apfel auf dem Kopf seines Sohnes Geschichte macht.
27. Mai 1983: Am Bahnhof Berlin-Friedrichstraße will ein 24-jähriger Müllwagenfahrer die Triebwagenführerin eines Ost-Berliner S-Bahn-Zuges mit vorgehaltener Waffe dazu zwingen, nach West-Berlin zu fahren. Doch das Gleis, auf dem sie unterwegs sind, führt zu einem Prellbock. Von der Geschichte hatte ich noch nie gehört. Maxim Leo hat daraus einen Roman gemacht, nur dass bei ihm die Flucht nicht am Prellbock endet. Es ist die Geschichte von Michael Hartung, mäßig erfolgreicher Videothekenbesitzer, der 30 Jahre später durch die Recherche eines Journalisten zum Helden der Flucht von 127 DDR-Bürgern in den Westen gemacht werden soll. Mit all den Komplikationen, die solch eine verspätete Heldenerklärung mit sich bringt – und humorvoll und gut erzählt.
Auch wieder eine Zeitreise in eine andere Welt für mich, obwohl doch nur ins Leben einer katholischen Großfamilie im Münsterland des 20. Jahrhundert. Jedes einzelne der 11 Geschwister auf dem Hof hat eine eigene Geschichte zu erzählen, die von den 40igern bis in die 70iger Jahre reicht und damit auch ein Spiegel der gesellschaftlichen Veränderungen auf dem Land ist. Wie auch die Mutter ihre Rolle verändert und über die Familie hinauswächst, wie sich die persönliche Freiheit vor allem auch für die Mädchen im Laufe der Zeit verändert, das war für mich sehr spannend zu lesen. Was vielleicht auch daran liegt, dass es in meiner Familie schon seit Generationen kein bäuerliches Leben mehr gab.
Von Charlotte McConaghy kannte ich schon „Wo die Wölfe sind“ und war deshalb gespannt auf ein weiteres Buch von ihr. „Sie haben die Krähen für ausgestorben erklärt“. In der Welt von “Zugvögel” gibt es kaum noch Vögel, kaum noch Fische. Die Hauptfigur Franny aber ist fasziniert von den letzten Vögeln und will ihnen unbedingt auf ihrem Zug folgen. Und so macht sie sich auf den Weg, ein Schiff zu finden, das sie mitnimmt von der Küste Grönlands bis in die Antarktis. Kann ein Roman zugleich Schmöker sein und aufrütteln? Dieser schon.