Sigrid Varduhn
Autorin | Schreibcoach | Erzählerin

Über Geschichten die Welt verstehen

Da war einmal ein Mädchen, das wusste schon, bevor es in die Schule kam, was sein Lieblingsfach werden würde: Geschichte. Weil es davon ausging, dass da Geschichten erzählt würden.

Das Mädchen war ich und diese Erwartungen wurden nicht ganz so erfüllt. Aber zum Glück gibt es ja auch ein Leben nach der Schule…

Ein Roman im Reisegepäck

Erst 5 Wochen ist es her, dass ich mich auf den Weg in den Urlaub gemacht habe: nach Skagen an die Nordspitze Dänemarks, dort wo Nordsee und Ostsee zusammenfließen.

Schon lange wollte ich mir diesen Ort ansehen, an dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Künstlerkolonie mit ganz besonderen Bilder entstand: Bilder des Lichts.

Einige davon kannte ich schon, aber wer genau die Malerinnen und Maler waren und warum gerade an diesem Ort eine Künstlerkolonie entstand, das wusste ich nicht.

Und weil bei mir sowieso immer auch Romane mit auf die Reise kommen, hielt ich Ausschau und wurde fündig mit “Die Frauen von Skagen” der deutsch-schwedischen Autorin Stina Lund.

Vor Ort “weiß” ich schon alles.

Die Anreise war etwas länger (schließlich durchquerte ich ganz Jütland ), also hatte ich den Roman auf der Hinfahrt schon einmal durchgelesen. Und das passte gut. Denn als ich am ersten Vormittag in Skagen im Museum stand, “wusste” ich schon alles. Ich wusste wie Marie und Søren Krøyer zusammengekommen waren, wie die Freundschaft zwischen den Malerpaaren sich entwickelte, wer mit welchen Bildern berühmt geworden und warum Brøndums Hotel so wichtig für die Künstlerkolonie gewesen war.

Es fühlte sich an, als wäre ich bei Freunden und ihren Bildern angekommen. Einfach nur, weil ich schon vorher in einem Roman über sie gelesen hatte. Und all die Informationen waren so leicht in meine Erinnerung geflossen, dass ich das “Lernen” gar nicht bemerkt hatte.

Tatsächlich hatte ich ich mich ja schon vorher gefragt, was das Besondere an diesem Ort war. Warum machten sich Maler aus Kopenhagen auf den Weg in die entlegenste Ecke Jütlands, um dort zu malen? (Und das war Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts noch eine deutlich langwierigere Reise als heute).

Vibeke, eine der Hauptfiguren in Stina Lunds Roman, hat dieselben Fragen wie ich. “Sie hatte die Vermieterin des Häuschens gefragt, was das Besondere am Skagener Licht wäre. Und die Frau hatte erwidert: „Skagen ist vom Meer umgeben. Im Osten von der Ostsee, im Westen von der Nordsee. Das Sonnenlicht spiegelt sich im Wasser und vervielfacht sich dadurch. Es gibt nicht viele Orte, an denen das so ist.“

Und so erfahre ich das Besondere an diesem Ort über die Nähe zu den Romanfiguren. Die Fakten, die für sie wichtig sind, bekommen auch für mich Bedeutung. Der Roman erklärt mir den Luminismus, die “Lichtkunst”, und ich merke gar nicht, dass mir das erklärt wird.

Narration = Emotion = Erinnerung

Narration und Emotion hängen eng zusammen – deshalb funktioniert das mit den Geschichten so gut. Darum geht es auch in Fritz Breithaupts „Das narrative Gehirn. Was Neuronen uns erzählen.“, das ich schon im Frühjahr gelesen habe. Es wurde 2023 zum „Wissenschaftsbuch des Jahres“ in der Kategorie „Medizin und Biologie“ gewählt.

Über Geschichten können wir aus den Erfahrungen anderer lernen, an ihren Welten teilhaben. Oder wie der Literatur-, Kultur- und Kognitionswissenschaftler es in der Einleitung zum Buch formuliert: „Wir verdoppeln unser Leben.“ Nicht immer erinnern wir alles aus allen Geschichten , die wir gehört oder gelesen oder als Film gesehen haben. Aber was wir (fast) immer erinnern: die Emotion zur Geschichte. Noch Jahre später wissen wir, ob sie uns glücklich oder traurig gemacht hat, ob wir sie lustig oder merkwürdig fanden. Und diese Verbindung mit den Emotionen macht Geschichten so wirksam.

Wie ist es bei dir: Was hast du aus Romanen über die Welt gelernt? Welche Romane haben dir neue Welten eröffnet? 

Ich lerne am besten über Geschichten, das ist mir noch einmal sehr deutlich bewusst geworden, als ich da im Museum in Skagen stand. Obwohl ich das doch anscheinend schon als kleines Mädchen wusste. Und ich frage mich, ob sich mir die Naturwissenschaften über Geschichten oder Romane auch besser erschlossen hätten. Ich bleibe dran.

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