Sigrid Varduhn
Autorin | Schreibcoach | Erzählerin

Meine LeseLiebsten 2021

Ein verblüffender historischer Roman, ein kämpferischer Wanderbegleiter, ein mutiges Debüt, das Gespenster vertreibt, das sind drei der sieben Bücher, die es auf meine persönliche „Bestenliste“ im Jahr 2021 geschafft haben. Was allen gemein ist: Nach dem ersten Lesen waren sie gleich noch einmal „dran“. Und das ist eines der Zeichen dafür, dass ein Buch mich wirklich gepackt hat.

1. Das Erste: “Tyll”, Daniel Kehlmann

Eine Geschichte des Tyll Ulenspiegel – oder wie er uns vertrauter ist: Till Eulenspiegel. Oder doch nicht? Das erste Buch in meinem Lesejahr 2021 – und gleich auf der Liebstenliste gelandet. Schon nach den ersten Seiten war ich verblüfft: Was Daniel Kehlmann alles über Till Eulenspiegel herausgefunden hat! Über das Leben eines Gauklers im Schatten des 30-jährigen Krieges, der von Ort zu Ort zieht. Ein Hofnarr, der die Herrschenden verspottet, aber auch einer, der immer wieder neue Wege findet, um zu überleben.

So gebannt war ich von all diesen Wirrungen und Wegen, dass ich erst im Nachhinein nachlas: Daniel Kehlmann hat nicht nur herausgefunden, sondern auch erfunden. Oder wie es in den Rezensionen zu lesen war: Dies wäre eben nicht wirklich ein Roman über Till Eulenspiegel. Denn der hat nicht im 17. Jahrhundert gelebt, sondern im 14. Jahrhundert. Dass ich alles für bare Münze genommen hatte, weil es so gut geschrieben war, irritierte mich. Aber jetzt denke ich immer noch: Ein großartiger historischer Roman, auch wenn einiges anders verknüpft ist, als es in Wirklichkeit war.

2. Der Wanderbegleiter: “Die Wurzeln des Lebens”, Richard Powers

Meine Wanderlektüre im Mai, durch den hohen Fläming, nicht weit von Berlin. Zwei Wochen lang kam das Buch im Rucksack mit und sieht jetzt auch so aus: viel genutzt. Der junge Künstler Nicholas, dessen Vorfahren eine Kastanie aus dem amerikanischen Osten mitgebracht haben, die als eine der wenigen das große Kastaniensterben überlebt.  Die Ingenieurin Mimi, deren Vater aus China eine Maulbeere mitbrachte. Die Botanikerin, die zur Kommunikation der Bäume forscht. Alle kommen sie im Laufe des Romans zusammen, um die letzten Mammutbäume zu retten. Richard Powers verwebt die Geschichte von Menschen und Bäumen. Ein episches (und kämpferisches!) Werk über die Welt der Bäume und der Menschen – und ein idealer Wanderbegleiter.

3. Aufrüttelnd: “Sprich mit mir”, T.C. Boyle

Ich bin T.C. Boyle-Fan. Er hat mir ganz neue Welten erschlossen und erzählt für mich immer wieder großartig, wie wir Menschen ticken, wenn wir auf die Probe gestellt werden. Hier setzt die junge Psychologiestudentin Aimee all ihren Ehrgeiz darein, in dem Projekt von Professor Schemerhorn mitzuarbeiten, in dem es um die Kommunikation von Schimpansen geht. Selbst wenn sie anfangs nur die Ställe putzt. Doch dann kommt ihr der Schimpanse Sam immer näher. Was, wenn Menschenaffen reden könnten? Dafür wird ihnen in dem Versuch die Gebärdensprache beigebracht. Und damit sind sie so erfolgreich, dass sie es bis ins Fernsehen schaffen. Aber dann gehen dem Projekt die Gelder aus. Und was ist mit Menschenaffen zu tun, die zwar reden können, es aber nicht mehr sollen? Für Aimee geht es jetzt nicht mehr um das Projekt oder ihre Karriere, sondern nur noch um Sam.

4. Gespenster vertreiben: “Die Gespenster von Demmin”, Verena Keßler

Da traut sich eine was. Über Demmin zu schreiben, die Stadt im Nordosten Deutschlands, deren Name vor allem mit dem Massensuizid 1945 beim Einmarsch der Russen verknüpft ist. Und dann auch noch in ihrem Debutroman. Ich habe nicht geglaubt, dass sich über Demmin ein so tiefer und doch auch “leichter” Roman zugleich schreiben lässt, der das Damals und das Heute verbindet. Die Hauptfigur Larry ist 13. Sie will weg aus Demmin und Kriegsreporterin werden. Dafür trainiert sie unter anderem mit stundenlangem Über-Kopf-Hängen im Garten. Im Haus nebenan: die alte Nachbarin, die sich beim Aussortieren ihres Hausstands an das Kriegsende in Demmin und ihre eigene Kindheit erinnert. Was die beiden verbindet und ob Larry wegkommt? Einfach selber lesen ????.

5. Aus Liebe zum Lesen: “Robinsons Tochter”, Jane Gardam

Wir haben es 1904 und die sechsjährige Polly zieht zu ihren Tanten ins große gelbe Haus in der Marsch an der Ostküste Englands. Auf die englische Autorin Jane Gardam habe ich quasi ein „Abo“, seit ich erst vor wenigen Jahren auf ihre Bücher gestoßen bin. Ihre Figuren bleiben mir unvergesslich und so wird es wohl auch mit Polly werden, die mir als Ich-Erzählerin schnell als Herz gewachsen ist.

Unterhaltung gibt es nicht viel im gelben Haus für Polly, aber jede Menge Bücher. Ihre Tanten werden sich ihr erst über viele Jahre entschlüsseln, doch schnell wird ihr aus der großen Bibliothek jemand anders ein tröstlicher Begleiter: Robinson Crusoe. Das Buch begleitet sie überall hin. So „festgesetzt und eingesperrt“ sie sich auf ihrer “Insel” über Jahre und Jahrzehnte fühlt, hat sie in Crusoe einen Gleichgesinnten gefunden und lässt sich davon leiten, wie er die Einsamkeit in seinem Leben meistert.

Ein Buch über die Liebe zum Lesen und das, was ein Buch für einen Menschen zu sein vermag. Und PS: Es kommt auch noch ein „Schiff“ für Polly – so wie für Crusoe.

6. Eindringlich: “Die Beichte einer Nacht”, Marianne Philips

Dieses Buch habe ich gehört – und gerade dadurch hat es sich mir vermutlich so eindrücklich eingeprägt. Denn es ist ein Gespräch, das dann aber doch keines ist, weil nur eine redet: Heleen. In einer Nervenklinik vertraut sie einer Nachtschwester ihre Lebensgeschichte an. In einer langen Nacht spricht sie zum ersten Mal über ihre Kindheit, die kinderreiche Familie, in der sie als Älteste für die Jüngeren sorgen musste. Über Ihre große Liebe zu Hannes und darüber wie die jüngste Schwester Lientje nach dem Tod der Eltern zu ihnen zieht und wie da etwas zwischen Hannes und Lientje entsteht, mit dem sie nicht umzugehen weiß. Beim Lesen (oder hören) zieht sich einem das Herz zu, auf was all das hinauslaufen mag, wenn das Leben jemanden zu viel aufbürdet. Ein kunstvoll und eindringlich geschriebenes Buch der niederländischen Autorin Marianne Philips, die ich zuvor noch nicht kannte.

7. Ein kreatives Leben führen: “BIG MAGIC”, Elizabeth Gilbert

Eat, pray, love – das Buch und der Film – das war es, was ich bisher mit der Autorin Elizabeth Gilbert verbunden hatte. Und beides war mir ein bisschen zu sehr “gehypt”. Deshalb habe ich nicht damit gerechnet, dass mich ihr Sachbuch “Big Magic“ so sehr ansprechen würde.

Big Magic – das heißt für Elizabeth Gilbert, dass „unser Planet auch von Ideen bewohnt wird.“ Sie umspielen und umwerben uns. Und: „Wenn eine Idee glaubt, jemanden gefunden zu haben – dich zum Beispiel –, der sie möglicherweise zum Leben erwecken kann, wird sie dir einen Besuch abstatten.“ Das ist das große Bild hinter diesem Buch – und ich mag es sehr.

Dabei erzählt Elizabeth Gilbert über ihr Leben und ihr Schreiben, über Absagebriefe und Bestseller, über (zu teure) Creative-writing-Studiengänge, über Schreibkolleginnen, zu denen ihre Ideen gegangen sind, nachdem sie selbst diese doch nicht wollte. Und sie schreibt über Kreativität und Angst und warum die beiden durchaus zusammengehören (dürfen). Jede und jeder von uns hat das Recht, ein kreatives Leben zu führen. Und dieses Buch ist eine große Ermutigung dafür.

Übrigens: Das Cover der englischsprachigen Ausgabe ist bunt wie ein Feuerwerk – was für mich gut zu „Big Magic“ passt. Bei der deutschsprachigen Ausgabe lächelt einen Elizabeth Gilbert selbst großformatig und hoffnungsvoll an und der Untertitel lautet: „Nimm dein Leben in die Hand und es wird dir gelingen.“ Das kann ein bisschen abschreckend wirken. Aber es bleibt ein aus meiner Sicht großartiges Buch.

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