Sigrid Varduhn
Autorin | Schreibcoach | Erzählerin
Newsletter vom 22.10.2020

Was erste Sätze alles können

Liebe Schreibfreundinnen und Schreibfreunde,

„An einem der letzten Maitage, das Wetter war schon sommerlich, bog ein zurückgeschlagener Landauer vom Spittelmarkt her in die Kur- und dann in die Adlerstraße ein und hielt gleich danach vor einem, trotz seiner Front von nur fünf Fenstern, ziemlich ansehnlichen, im Übrigen aber altmodischen Hause, dem ein neuer, gelbbrauner Ölfarbenanstrich wohl etwas mehr Sauberkeit, aber keine Spur von gesteigerter Schönheit gegeben hatte, beinahe das Gegenteil.“ (Theodor Fontane in „Frau Jenny Treibel“)

Ich mag kurze erste Sätze und ich bewundere lange. Ob Roman, Erzählung oder Kurzgeschichte – der Einstieg in eine Geschichte gleicht dem Blick in den Flur eines Hauses oder einer Wohnung, nachdem die Tür aufgegangen ist. Wie viel ist schon zu sehen? Wie repräsentativ mag die Einrichtung sein, ist es eher liebenswürdig chaotisch oder sehr klar und aufgeräumt? In wenigen Sekunden bekommen wir einen Eindruck und werden im besten Fall hineingezogen – in die Wohnung oder ins Buch. 

Der erste Satz muss zum Rest passen – diese Regel gilt immer. Lässt uns ein erster Satz innehalten oder hechten wir gleich weiter? Der Einstieg verrät uns viel über die Dynamik eines Textes und kann uns für die Geschichte gewinnen – je nachdem, ob wir es genau so mögen oder nicht.

Wirf bei meinen folgenden Tipps und Beispielen gern auch parallel einen Blick in deine aktuelle Lektüre. Wie sieht es dort mit dem ersten Satz aus – und ist er dir aufgefallen oder hat er dich ganz unmerklich ins Buch oder die Geschichte hineingezogen?

Was erste Sätze alles können:

  1. „Ilsebill salzte nach.“
    Im Jahr 2007 veranstalteten die Initiative Deutsche Sprache und die Stiftung Lesen einen Wettbewerb für den schönsten ersten Satz. Gewonnen hat „Ilsebill salzte nach.“ von Günter Grass aus „Der Butt“. Der abrupte Einstieg lässt uns mitten hineinspringen in die Handlung und zeigt, dass es auch schon eine Geschichte vor der Geschichte gab. Auf die könnten wir genauso neugierig werden.

    Das Beispiel zeigt noch etwas: Ganz kurze erste Sätze finden sich in Romanen genauso wie eher lange in Kurzgeschichten. Das Genre sagt nichts aus über die Länge des ersten Satzes. 
  2. „Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben.“
    Der erste Satz von Richard Fords Roman „Kanada“ kommt lakonisch daher und lässt gleichzeitig Dramatisches vermuten. Beim Lesen des ersten Satzes sind wir immer eher Vermutende als Wissende. Genau das kann Spannung auslösen. Ist es ein Kind, das diese Geschichte erzählt? Und wenn ja, wie kann es den Raubüberfall seiner Eltern so „undramatisch“ sehen? Der ganze Roman kann schon vorangelegt sein in so wenigen Worten.
  3. „Drei Dinge habe ich bisher in meinem Leben gestohlen, mit acht Jahren ein Paar rosa Barbie-Stöckelschuhe, mit achtzehn ein seltsames Kunstobjekt von meiner besten Freundin, mit dreiundzwanzig einen verheirateten Mann.“
    Die Hauptfigur und ihre Motive einführen, auch das kann ein erster Satz – so wie in Doris Dörries Kurzgeschichte „Oben rechts die Sonne“. Und auch der trockene Ton der Geschichte wird hier schon greifbar. 
  4. „Am Morgen waren die Kohlen gekommen.“
    Kohlen? Wo wird denn noch mit Kohle geheizt? Oder spielt die Geschichte woanders oder in einer anderen Zeit? Hier führt der erste Satz die Fragen weiter, die schon der Titel (“Kohlen”, von Judith Hermann) ausgelöst haben kann. Wenn der erste Satz etwas erzählt zu Schauplatz oder Zeit (oder entsprechende Fragen oder Vermutungen aufwirft), dann heißt das auch: Ort oder Zeit werden wichtig in dieser Geschichte.

In meinem eigenen Schreiben ist manchmal der erste Satz zu einer Geschichte als allererstes da – einfach so. Und damit auch mitunter schon fast die ganze Geschichte. Aber auch das kenne ich: Die Geschichte ist längst fertig und der Einstieg fehlt noch oder der, der da ist, funktioniert nicht. Oder ich ersetze den ersten (Ab-)Satz, von dem ich am Anfang so angetan war, nachher doch durch einen stärkeren, den ich von unten nach oben ziehe und so den Aufbau der Geschichte als Ganzes ändere.

Hast du dich bisher eher für den “Kurzer-Erstsatz-Typ” gehalten oder ausschließlich in langen ersten Sätzen geschwelgt? Probiere doch mal aus, ob da nicht noch mehr Abwechslung möglich ist.

Es grüßt herzlich im Leseherbst

Sigrid

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