Liebe Schreibfreundinnen und Schreibfreunde,
„An einem der letzten Maitage, das Wetter war schon sommerlich, bog ein zurückgeschlagener Landauer vom Spittelmarkt her in die Kur- und dann in die Adlerstraße ein und hielt gleich danach vor einem, trotz seiner Front von nur fünf Fenstern, ziemlich ansehnlichen, im Übrigen aber altmodischen Hause, dem ein neuer, gelbbrauner Ölfarbenanstrich wohl etwas mehr Sauberkeit, aber keine Spur von gesteigerter Schönheit gegeben hatte, beinahe das Gegenteil.“ (Theodor Fontane in „Frau Jenny Treibel“)
Ich mag kurze erste Sätze und ich bewundere lange. Ob Roman, Erzählung oder Kurzgeschichte – der Einstieg in eine Geschichte gleicht dem Blick in den Flur eines Hauses oder einer Wohnung, nachdem die Tür aufgegangen ist. Wie viel ist schon zu sehen? Wie repräsentativ mag die Einrichtung sein, ist es eher liebenswürdig chaotisch oder sehr klar und aufgeräumt? In wenigen Sekunden bekommen wir einen Eindruck und werden im besten Fall hineingezogen – in die Wohnung oder ins Buch.
Der erste Satz muss zum Rest passen – diese Regel gilt immer. Lässt uns ein erster Satz innehalten oder hechten wir gleich weiter? Der Einstieg verrät uns viel über die Dynamik eines Textes und kann uns für die Geschichte gewinnen – je nachdem, ob wir es genau so mögen oder nicht.
Wirf bei meinen folgenden Tipps und Beispielen gern auch parallel einen Blick in deine aktuelle Lektüre. Wie sieht es dort mit dem ersten Satz aus – und ist er dir aufgefallen oder hat er dich ganz unmerklich ins Buch oder die Geschichte hineingezogen?
Was erste Sätze alles können:
In meinem eigenen Schreiben ist manchmal der erste Satz zu einer Geschichte als allererstes da – einfach so. Und damit auch mitunter schon fast die ganze Geschichte. Aber auch das kenne ich: Die Geschichte ist längst fertig und der Einstieg fehlt noch oder der, der da ist, funktioniert nicht. Oder ich ersetze den ersten (Ab-)Satz, von dem ich am Anfang so angetan war, nachher doch durch einen stärkeren, den ich von unten nach oben ziehe und so den Aufbau der Geschichte als Ganzes ändere.
Hast du dich bisher eher für den “Kurzer-Erstsatz-Typ” gehalten oder ausschließlich in langen ersten Sätzen geschwelgt? Probiere doch mal aus, ob da nicht noch mehr Abwechslung möglich ist.
Es grüßt herzlich im Leseherbst
Sigrid