Sigrid Varduhn
Autorin | Schreibcoach | Erzählerin
Newsletter vom 22.05.2018

Mit der Hand schreiben oder tippen?

Liebe Schreibfreudige,

mal wieder eine Postkarte im Briefkasten – wie schön. Bei der Handschrift auf der Rückseite zögere ich nur einen Augenblick, dann weiß ich, von wem sie ist. Das gleich vorweg: Unter vielen Vorzügen, die unsere Handschrift mitbringt, ist dies einer: Sie ist einzigartig.

In der Schulpolitik ist die Handschrift ein viel- und heißdiskutiertes Thema. In meinen Werkstätten mit Erwachsenen geht es allerdings weniger darum, sie überhaupt mit dem handschriftlichen Schreiben vertraut zu machen, sondern darum, wie oft sie dies noch tun.

Inzwischen gibt es einiges an Forschung dazu, wann und wozu die Handschrift besonders wichtig ist. Davon möchte ich hier etwas vorstellen, aber auch dazu anregen, eigene Erfahrungen zu machen.

Aufmerksamer, konzentrierter, offener? Was die Handschrift alles kann:

a) Handschrift verbessert das Verständnis.

Bei einer Studie in Princeton und Los Angeles – durchgeführt von Pam A. Mueller und Daniel M. Oppenheimer – bekamen Studierende kurze Videofilme mit Aufzeichnungen von Vorträgen gezeigt. Die eine Hälfte schrieb am Laptop mit, die andere handschriftlich auf Papier. Vor allem komplexe Zusammenhänge wurden von der Gruppe, die mit der Hand schrieb, besser verstanden. Die Laptop-Gruppe schrieb mehr Wörter mit, während die Handschrift-Gruppe das Gehörte mehr in eigenen Worten formulierte. Mehr zur Studie: https://cpb-us-w2.wpmucdn.com/sites.udel.edu/dist/6/132/files/2010/11/Psychological-Science-2014-Mueller-0956797614524581-1u0h0yu.pdf

In einer anderen Studie an der Uni Trondheim (von Audrey und Ruud van der Weel) zeigte sich allerdings auch, dass die Verständnisleistung beim Schreiben mit einem speziellen Stift am Bildschirm besser funktioniert als beim Eintippen über die Tastatur. Mehr zu dieser Studie: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5422512

Das spricht in jedem Fall für die Handschrift, allerdings auch auf anderen Medien als dem Papier. In beiden Studien ging es um handschriftliches Schreiben als motorischem Prozess, bei dem das Formen von Buchstaben bestimmte Hirnareale stimuliert. Was beim Tippen am Computer nicht eintritt, weil dort die Form der Buchstaben keine Rolle spielt.

b) Handschrift macht kreativer.

Eine weitere Studie, durchgeführt von Virginia Berninger von der Universität Washington. Sie zeigte, dass Grundschulkinder, die ihre Geschichten mit der Hand schrieben, mehr Ideen beim Schreiben entwickelten, als die, die am Computer schrieben. Mehr zur Studie: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/16390289 Auch in dieser Untersuchung ging es darum, dass das Formen von Buchstaben bestimmte Bereiche im Gehirn anspricht, die dafür sorgen, dass wir uns die Buchstaben vor dem inneren Auge vorstellen. Was wiederum die Vorstellungskraft insgesamt anregt.

Ich selbst schreibe übrigens seit einigen Wochen immer einmal wieder auch nicht nur mit der Hand, sondern auch in meiner Schreibschrift. Die ich seit über 40 Jahren nicht gesehen habe. Das ist schon allein visuell immer wieder verblüffend für mich, meine Schrift als 8-Jährige vor mir zu sehen. Und es macht etwas mit mir und meinem Schreiben. Aber: Ich forsche noch!

c) Ins Schreiben hineinkommen.

Sowohl auf die Körperlichkeit als auch auf die Konzentration beim Schreiben mit der Hand bezieht sich Hanns-Josef Ortheil in „Mit dem Schreiben anfangen” (Duden-Verlag, 2017), um sich gut ins Schreiben zu bringen. Unter anderem geht er auf das handschriftliche Ab-Schreiben von fremden Texten ein – eine im literarischen Schreiben schon lang erprobte Methode, Stile zu erforschen und darüber den eigenen zu entwickeln.

Ich schreibe sogar eigene Texte ab – zum Beispiel im Prozess des Überarbeitens. Allerdings funktioniert das bei mir auch am Computer. Was daran liegen mag, dass ich „blind tippe” und mit meiner Konzentration ganz beim Text sein kann. Und bei dir? Könnte es sein, dass das handschriftliche (Ab-)Schreiben eines Textes dich in die richtige Schreibstimmung bzw. Konzentration bringt? Oder könnte dir auch am Computer das Abtippen eines fremden Textes bzw. eines Abschnittes helfen, in Schreibschwung zu kommen?

d) Automatisches Schreiben

Einfach fließend das aufschreiben, was einem gerade durch den Kopf geht. Ohne dass der innere Zensor sich einschalten darf. Das funktioniert für viele Menschen am besten mit dem Stift und auf dem Papier. Auch bei den Morgenseiten nach Julia Cameron halte ich es so. Bei mir hat das allerdings auch etwas mit der Tageszeit zu tun, da ich so früh morgens ungern am Laptop arbeite.

Empfohlen wird das Handschriftliche beim automatischen Schreiben, weil man beim Tippen eher versucht wäre, im Text zurückzugehen und gleich etwas zu verbessern. Ist das bei dir auch so? Oder kannst du auch am Computer in einen Modus wechseln, in dem du erst einmal frei heruntertippst, ohne dass sich dein innerer Zensor einschaltet?

Ich wünsche dir eine gute Zeit dabei, mal wieder etwas mehr mit dem Schreiben mit der Hand zu experimentieren, aber ruhig auch zu testen, welche unterschiedlichen Erfahrungen du beim Tippen machst.

Wer mehr wissen möchte rund ums Schreiben mit der Hand, dem sei auch die Initiative Schreiben empfohlen, die für Donnerstag, 22. Juni 2018 die lange Nacht des Schreibens angekündigt hat: http://www.initiative-schreiben.de

Herzliche Grüße

Sigrid

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