Hallo Schreibfreudige,
lange Sätze sind schlimm. Das zumindest ist die Botschaft in meinen Workshops zum Schreiben im Beruf. Texte, die schnell gelesen werden, brauchen kurze, prägnante Aussagen.
Auf der anderen Seite aber, in der Literatur, beim “Genusslesen”, kann es sie durchaus geben, die langen und schönen Sätze. Die wir zwei oder drei oder vier Mal lesen, bis wir sie ganz erfassen. Sie verlangsamen das Erzähltempo und als erster Satz eines Romans oder einer Erzählung lassen sie uns auf eine ganz besondere Weise hineingleiten in ein Buch.
Deshalb hier und heute eine kleine – und ganz subjektive – Auswahl von langen Sätzen.
In der Literatur geht’s auch länger:
a) Mal schnell, mal langsam. Aus “Die schösten Wanderungen in der Mark Brandenburg” von Theodor Fontane
„Die Schweize werden immer kleiner. Der Entdeckung der sächsischen Schweiz ist die der märkischen Schweiz auf dem Fuße gefolgt, und bei dem vorherrschenden Hange, immer mehr zu lokalisieren, sehen wir die Tage herannahen, wo wir in unserer Mark, also in dem vielleicht unschweizerischsten Lande der Welt, wenigstens ebenso viele Schweize besitzen werden, wie das alte, etwas missbräuchlich behandelte Original Kantone besitzt.“
b) Eine Erinnerung wie ein Film. Aus “Der Report der Magd” von Margaret Atwood
„Sie ist zu jung, es ist zu spät, wir geraten auseinander, meine Arme werden festgehalten, und die Ränder werden schwarz, und nichts ist mehr da, nur ein kleines Fenster, ein sehr kleines Fenster, wie das falsche Ende eines Fernrohrs, wie das Fensterchen auf einem Adventskalender, einem alten, Nacht und Eis draußen, und drinnen eine Kerze, ein strahlender Baum, eine Familie, ich höre sogar die Glocken, Schlittenglöckchen aus dem Radio, alte Musik, aber durch dieses Fenster sehe ich klein, aber sehr deutlich, sehe ich sie, wie sie sich von mir entfernt, zwischen den Bäumen hindurch, die sich schon rot und gelb färben, wie sie die Arme nach mir ausstreckt, während sie fortgetragen wird.“
c) Ein gedanklicher Einschub – in 95! von 144 Wörtern. Aus „Die Korrekturen“ von Jonathan Franzen
„Er hatte Zeit für einen subversiven Gedanken über die Nordic-Pleasurelines-Taschen seiner Eltern – entweder die Mitarbeiter von Nordic Pleasurelines verschickten solche Taschen an jeden, der eine Kreuzfahrt bei ihnen buchte, als zynisches Mittel einer wohlfeil wandelnden Reklame, als praktisches Mittel der Kennzeichnung von Kreuzfahrtteilnehmern, damit sie in den Häfen leichter zu handhaben waren, oder als günstiges Mittel zur Bildung von Teamgeist, oder aber Enid und Alfred hatten die Taschen von einer früheren Nordic-Pleasureline-Kreuzfahrt extra aufbewahrt und aus einem irregeleiteten Gefühl der Loyalität beschlossen, sie bei ihrer bevorstehenden Kreuzfahrt noch einmal zu tragen; so oder so war Chip entsetzt, wie bereitwillig seine Eltern sich zu Vektoren der Firmenwerbung machten -, bevor er die Taschen selber schulterte und es auf sich nahm, den La Guardia Airport und New York City und sein Leben und seine Kleidung und seinen Körper mit den enttäuschten Augen seiner Eltern zu betrachten.“
Wort für Wort sind sie gebaut, solche Sätze. Was sie zu etwas Besonderem macht, das sich im langsamen Lesen genießen lässt. Vielleicht ist bei dir im Sommer ja auch wieder Zeit fürs Genusslesen – oder „Slow Reading“? Ich wünsche es dir.
Und jetzt auf jeden Fall erst einmal ein schönes Pfingstwochenende, herzliche Grüße
Sigrid