Sigrid Varduhn
Autorin | Schreibcoach | Erzählerin

13 Möglichkeiten das Lesen zu betrachten – nach “13 Ways of Looking at a Blackbird”

Kann ein Gedicht zum Kreativ-Tool werden? Dieses schon. Die “13 Ways of Looking at a Blackbird” des US-amerikanischen Dichters Wallace Stevens habe ich vor vielen Jahren in meiner Poesiepädadogik-Ausbildung kennengelernt. Und ich bin nicht die einzige.

Seitdem Stevens sein Gedicht zum Betrachten einer Amsel 1924 zum ersten Mal veröffentlicht hat, inspiriert es andere Schreibende und Kunstschaffende und Musikerinnnen und Musiker. Zum Beispiel Colum McCann zum Roman “Thirteen Ways of Looking“. Und Jane Smiley zu “Thirteen Ways of Looking at the Novel“. Und Ama Codjoe zum Gedicht: “Thirteen Ways of Looking“. Und Ryan Brown und 12 anderen zur Komposition “Thirteen Ways of Looking at the Goldberg“. Und das sind nur einige wenige von vielen Beispielen.

In jeder seiner dreizehn Strophen (oder Textminiaturen) sieht Wallace Stevens die Amsel auf eine andere Weise. Sein Blick ist konkret und dann wieder metaphorisch. Er bewegt sich zwischen Gedanken, Wahrnehmung und Meditation. Und es ist diese Vielfalt, die sein Gedicht so kraftvoll macht – und anregend fürs kreative Schreiben.

Für mich sind die “13 Möglichkeiten, etwas zu betrachten” ein Entdeckungsinstrument – und die einzelnen Strophen wie Inseln, zwischen denen ich hin- und herhüpfe. Mal liegen die Inseln nah beieinander, mal ist der Sprung etwas größer. Und so funktioniert das Schreiben mit den 13 Möglichkeiten ganz assoziativ. Ein Bild, eine Reflexion, eine Erinnerung, eine Mini-Geschichte folgt auf das oder die andere.

Und so habe ich mit den 13 Möglichkeiten auch einmal aufs Lesen geschaut, auf meinen persönlichen Zugang zum Lesen. Denn so funktioniert dies Methode: Das Ergebnis ist ganz persönlich. Wenn du zu deinem Lesen schreiben wirst, werden sich andere Assoziationen, Bilder, Reflexionen und Erinnerungen ergeben. Probiere es gern aus: Was wirst du entdecken?

13 Möglichkeiten, das Lesen zu betrachten:

  1. Ich sitze in meinem Kinderzimmer und spiele mit Buchstaben auf Plättchen. Ich lege sie zu Familien zusammen und weiß genau, wer ein Mann ist und wer eine Frau. Die Frauen, das sind A, B, C, D, G, M, N, O, Q, S, U, W, Y und Z. E, F, I, J, K, L, P, R, T und X sind Männer. Wundern werde ich mich erst viel später, als ich merke, dass dieses System keiner kennt außer mir.
  2. Der Bücherbus, der direkt vor unserem Haus hielt. Die Stadtteilbibliothek in Berlin-Lankwitz mit den Kinderboxen und den Lochkarten in den Büchern. Die Mediathek im damals neuen Mittelstufenzentrum mit den langen Gängen und dem künstlichen Teppichgeruch und Audiokassetten zum Ausleihen!
  3. Büchereien als Schatzkammern, aus denen sich die Schätze säckeweise nach Hause tragen lassen.
  4. Eine Buchmesse, die es lange nicht mehr gibt: In den Messehallen am Berliner Funkturm sitze ich auf einer der langen Polsterreihen mit einem Kinderbuch – und bald einem Stapel davon.
  5. Bücherstapel! Ließen sich aus Büchern doch auch Häuser bauen.
  6. Im großen grünen Sessel im Wohnzimmer meiner Kindheit: Mit einem Buch und einem Apfel. Mehr braucht es nicht für mein (Lese-)Glück.
  7. Bei einer für mich neuen Autorin oder einem Autor zu wissen, dass da noch viel mehr unbekannte Bücher auf mich warten.
  8. Meine liebste Völlerei: Büchergutscheine zum Geburtstag. X Euro zum freien Verprassen.
  9. Lesen für die Ohren. Manche Bücher erschließen sich mir als Hörbücher noch einmal ganz anders und manche nur so. Zum Beispiel “Das Museum der Unschuld” von Orhan Pamuk.
  10. Mein größtes Kompliment an einen Roman: Wenn ich gleich wieder Seite eins aufschlage und von vorn beginne. Und die Geschichte dann noch einmal völlig neu verstehe.
  11. Auf der Suche nach den Büchern meiner Kindheit werde ich in einer Bücherei fündig. In der S-Bahn lese ich mich fest in “Bleib bei uns, Gulla” von Martha Sandwall-Bergström. Und gleich verstehe ich noch bisschen mehr darüber, wie ich so geworden bin, wie ich bin.
  12. Darfs ein bisschen mehr sein?“, fragt der Nachttisch. Und ich lege noch eins drauf.
  13. Wir haben länger nicht geplaudert“, raunt der Roman mir zu, als ich ihn ein wenig angestaubt aus dem Regal ziehe. Und wir freuen uns beide auf die Zeit miteinander.

Schaut euch gern auch das Originalgedicht “13 Ways of Looking at a Blackbird” von Wallace Stevens an: https://www.poetryfoundation.org/poems/45236/thirteen-ways-of-looking-at-a-blackbird

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